Jenseits der Currywurst

Für Literaturdetektive

Schalke und Curry-Wurst. Für mich gehört das zusammen wie das Ruhrgebiet und seine erloschenen Feuerstellen. Wer noch nie dort war, meint häufig, dort rieselte noch immer der Kohlenstaub vom Himmel. Solchen Leuten kann ich so wenig helfen wie denen, die mir die Curry-Wurst madig machen wollen. Curry-Wurst also gehörte zu den liebsten Speisen meiner Kindheit, und auch heute gehe ich ungern an Imbiss-Buden vorbei, in denen ich einen Meister der Curry-Wurst vermute. Nie hätte ich gedacht, dass eine andere Schnellspeise an ihre Seite treten könnte.

In Münster, dem Ort der Studien, wurde ich eines Besseren belehrt. In der Innenstadt, abseits der großen Käuferströme, gibt es eine schmale Gasse. Ich weiß, dass sie von der Salzstraße abgeht. Für ihren Namen habe ich mich nie interessiert. Vielleicht schaue ich beim nächsten Münsterbesuch auf das Straßenschild. In dieser Gasse also entdeckte ich vor vielen Jahren etwas ganz Besonderes: einen Hot-Dog-Stand. Halb Kiosk, halb offene Bude, bot er diesen wurstartigen Mischmasch aus Fleisch in allen Varianten an: Texas Hot-Dog John Wayne, Hot-Dog Mexiko, Lagerfeuer Hot-Dog (mit Chili). Aus bestimmt zwanzig Sorten konnte ich wählen, aber ich entschied mich für einen Standard-Hot-Dog mit Ketchup. Der erste Biss überzeugte mich, der Geschmack, die Konsistenz, den würde ich auch noch ohne Zähne genießen können. Der junge Student, der ich damals war, erinnerte sich. Das war nicht der erste Hot Dog dieser Art, als kleiner Junge hatte ich in Gelsenkirchen (so heißt die Stadt, die zu Schalke gehört), gern Hot Dogs gegessen. Vom Taschengeld, glaube ich, habe ich mir diese Hot Dogs geleistet. In Gelsenkirchen gab es nur Standard Hot Dogs. Wie in Münster waren dort die weichen länglichen Brötchen auf überdimensionalen Heiznägeln aufgespießt. Wenn der Hot Dog im Fett heiß genug war, kam er ins Brötchen, dessen Höhlung zuvor mit Ketchup gefüllt wurde. Dann noch Ketchup über den Hot Dog – perfekt!

In Münster wurde ich Stammkunde des kleinen Standes, und ich bekam einen Blick für andere Dinge. Am Wochenende stellte ich mich gern in die Schlange und hörte den Verkäufer rufen: »Wer hat noch nicht bestellt?« Hand auf, Vorauskasse, so lief das bei ihm. Eine kleine Gemeinde von Hot-Dog-Fans war immer beisammen. Friedlich wartete jeder darauf, aufgerufen zu werden. »Wer bekommt den Hot Dog Route 66?« Der enge Platz vor dem Stand war ein Schmelztiegel für alle Altersklassen und Schichten. Schüler und Manager standen dort dicht gedrängt und andächtig vor der Pforte zur fleischlichen Glückseligkeit.

Ich mochte den Verkäufer, einen Mann Mitte 50, mit seinem Mecki-Schnitt, seiner zurückhaltenden Freundlichkeit. Manchmal half seine Frau aus, jedenfalls hielt ich die stille Dame dafür, mitunter ein Mädchen, das ich von der Nase her zur Familie des Hot-Dog-Mannes rechnete. Der Hot Dog gehörte so sehr zu meinem Leben, dass wildes, an keinen Termin gebundenes Hot-Dog-Essen später zu einem Ritual wurde. Kaum ein Einkaufssamstag verging, an dem ich mit meiner Frau nicht einen Hot Dog spezial bestellte. Mittlerweile hatte ich den Standard verlassen und konnte mir die Königsklasse leisten. Hot Dog spezial, das hieß: der erweitere Schnell-Imbissbegriff mit Gurken und Röstzwiebeln. Bei dieser Variante liegt die Wurst quer im Brötchenbett und schaut einen nicht mehr so zweideutig phallisch an wie bei der ersten. Aber solche Gedanken kamen mir erst später, als ich Menschen, meist Frauen, beobachtete, die unweit des Standes ihren Hot Dog verspeisten. Sprechen wir aber lieber von mir und meiner Liebe zum Hot Dog, die mit genau diesem Stand in Münster untrennbar verbunden ist. Sogar nach einem Zahnarztbesuch, den ich mit betäubtem Unterkiefer verließ, ging ich zur kleinen Gasse. Ich konnte kaum den Mund aufsperren. Die Lust, nach quälendem Bohren und Spritzen etwas Leckeres zu essen, war größer. Und es war, auch unter diesen schwierigen Umständen, wieder ein Genuss. Ich war glücklich an diesem Tag, und das trotz Wurzelfüllung.

Zu erzählen wäre, wie die kleine Bude expandierte, von freundlichen Aushilfschinesen, von dem Gefühl, in der Gasse etwas Unanständiges zu tun, und einer stillen Sehnsucht, die mich immer wieder nach Münster führt. Aber eigentlich ist alles schon gesagt. Viele der Freunde aus Studientagen sind mittlerweile in alle Winde zerstreut. Was bleibt, ist der Hot-Dog-Stand. Und solange er da ist, kehre ich nach Münster zurück.

Entstanden 11/2002

 

Nennt mich Schreibgott

Der junge Schreibgott

»Nicht schon wieder«, dachte ich und begrüßte meine Schreibgruppe: »Schön Euch zu sehen.« Am Lächeln der Damen und Herren merkte ich stumpfes Vertrauen und Respekt. Respekt vor einem, der schreiben konnte. Der Romanautor war, bei einem mittleren, fast großen Verlag. So war ich wie geschaffen für die Ausbildung von Talenten – aber es gab keine Talente, all die Jahre nicht.

Im Laufe der Zeit hatte ich deswegen Verfahren entwickelt, die Schreiblust zu hemmen. Keine einfache Mission, mir jedoch war sie wichtig. Denn für jedes Buch, das ich verhinderte, wären mir Lektoren, Verlage und nicht zuletzt die Leser dankbar.

»Also, Ihr Lieben, unsere erste Übung – denkt an eine Südfrucht, die Ihr besonders mögt, und schreibt aus ihrer Sicht einen kurzen Text über die aktuelle Weltlage.« Ich genoss die entsetzten Gesichter. Keiner wagte zu fragen, wie und warum und überhaupt. Am liebsten hätte ich ergänzt: »Und wer vor dem Ende der Sitzung fertig ist, macht kontrastiv dasselbe mit einem Nahrungsmittel des täglichen Gebrauchs, das sich zu einer Daily-Soap äußert.« Das hätten sie gemacht, alle, so weit hatte ich sie in der vierten Sitzung bereits.

»Ihr wollt Schriftsteller sein?« wetterte ich vor sechs Wochen nach dem ersten Schreibspiel, »und scheitert an einfachsten Übungen?« Dann die üblichen Lügengeschichten von talentierten Schreibschülern – Goethe, Schiller und all den anderen, bei deren Namen allein sich das Schreibgefieder der Gruppe zu Boden senkte. »Lasst mich ehrlich sein«, sagte ich, »denkt nicht an Bücher, sondern daran, Euren literarischen Schaden zu begrenzen.« Um mehr könne es bei dieser Gruppe nicht gehen. Das ließ auch die zwei, drei Aufmucker verstummen und mit roten Ohren nach Hause schleichen. Alle hatten bezahlt, und so entließ ich sie mit der Aufgabe für einen fünfseitigen Text: »Warum Schreiben mein liebstes Hobby bleiben wird ...« Ein guter Start. »Beim nächsten Mal liest jeder seine ersten drei Sätze vor«, sagte ich beim Hinausgehen, »und wir stimmen dann ab, welchen Text wir komplett hören möchten.«

Wir hörten schließlich keinen der Texte. Und wie in den vorigen Semestern hatte ich bei den letzten Kurstreffen Zeit für eigene Vorhaben.

Segeberger Briefe No. 75. August 2007